Abrahams Dilemma

Abrahams Dilemma

Abrahams Dilemma

# Predigt

Abrahams Dilemma

Liebe Gemeinde, 

am vergangenen Donnerstag rief Hans-Peter Koller aus der Parkstraße bei uns im Gemeindebüro an, um an den 80. Jahrestag des wohl schwersten Luftangriffs auf Offenbach im Zweiten Weltkrieg zu erinnern. An vier Tagen, am 18. März 1944, am 20., 22. und 24. März brachten Luftangriffe von Royal Air Force und U.S. Army Air Force nicht nur Frankfurt, sondern auch Offenbach schwerste Verwüstungen. 

Ich habe daraufhin Herrn Koller besucht, und er hat mir ein Schriftstück in die Hand gedrückt, das er auch an die Offenbach-Post geschickt hat. Wir dürfen gespannt sein, was die Tageszeitung davon morgen, am 80. Jahrestag der Angriffe auf der Luft, abdrucken wird. 

Ich möchte die Anregung aufgreifen und schon heute im Gottesdienst an dieses fürchterliche Ereignis erinnern. Herr Koller schreibt, dass Westwinde immer wieder Leuchtbomben in Richtung Offenbach trieben. „Auch Bodenmarkierer fielen auf Offenbacher Terrain. So kam es, dass auch unsere Stadt schwer gezeichnet wurde. 

In der Nacht des 18. März fielen 44 Luftminen, 417 andere Sprengbomben, 6.000 Flüssigkeitsbrandbomen und ca. 100.000 Stabbrandbomben auf Offenbach. 

1.121 Wohnhäuser wurden zerstört, ebenso die Städtische Sparkasse, die Stadtkirche, das Versorgungshaus am Hessenring, die AOK, die Grein’sche Klinik, das Stadtkrankenhaus erheblich beschädigt. Straßen im Nordend (Herr Koller nennt stellvertretend die Goethestraße) glichen einer Ruinenlandschaft. 

Dass Offenbach „nur“ 167 Tote zu beklagen hatte, ist in hohem Maße auf die 16 Hochbunker zurückzuführen. Die Bevölkerung der Altstadt war nahezu vollständig im Bunker Großer Biergrund / Ziegelstraße untergeschlupft, was ihr zumeist das Leben rettete.“

Herr Koller ehrt in seinem Schreiben den damaligen Oberbürgermeister Dr. Helmut Schranz, der überproportional viele Bunker bauen ließ.  

Und er erinnert an die Offenbacher Bombenopfer des 18. März – wie auch grundsätzlich an Offenbacher Bombenopfer, darunter zwei Kinder, die in der Nacht zum 6. Juni 1940 in der Bettinastraße, Ecke Lilistraße, durch französische Bomben den Tod fanden; ferner auch an die 25 Opfer eines amerikanischen Tagesangriffst, der dem Frankfurter Verschiebebahnhof entlang der Hanauer Landstraße galt. 

„Am Obelisken auf dem Ehrenfeld des Neuen Friedhofs ehrt die Stadt alljährlich ihre Toten durch eine Kranzniederlegung.“

Herr Koller betont, dass der Begriff „Terrorangriff“, den die Nazis für ihre Propaganda prägten und dafür auch ausschlachteten, durchaus die Sache traf. Denn die Alliierten beabsichtigten ja damals Angst und Schrecken unter der Zivilbevölkerung zu verbreiten, um die Menschen kriegsmüde zu machen. Angst und Schrecken verbreiten, genau das zeichnet Terror aus. 

Heute sehen wir in den alliierten Gegnern von damals Menschen. Meschen zwar, die durch die Bombenangriffe vielfachen Tod brachten. Aber eben auch Menschen, getrieben von der Motivation, den Hitlerfaschismus und seinen vielfach schlimmeren Terror in Europa niederzuringen. Wir sehen die Opfer, die diese Menschen selbst in diesem Kampf brachten. Wir sehen auch, dass ihr Ziel, das mörderische Terrorregime der Nazis niederzuringen, das Angst und Schrecken über ganz Europa und darüber hinaus brachte, ein gutes und richtiges Ziel war. Und dass auch ihre eigenen Opfer uns die Befreiung vom Naziterror brachten. Wir sehen, dass das Verständnis der einstigen Gegner von Freiheit heute unserem Verständnis von Freiheit entspricht. Und wir nehmen uns sie zum Vorbild, wenn es gilt, sich gegen Terror und Faschismus zur Wehr zu setzen. 

Und doch bleibt so ein Terrorangriff ein Leben lang prägend für einen Menschen, der ihn einmal erlebt hat. Herr Koller hat als Jugendlicher einen Bombenangriff auf Offenbach erlebt, wenn auch nicht den vom 18. März. Und er hat sich als Erwachsener viel damit beschäftigt, was damals wirklich geschah. Der Schrecken hat ihn nie losgelassen, so habe ich Herrn Koller verstanden. 

Ich habe deshalb die Anregung aufgegriffen, weil der Terrorangriff mit Bomben auf eine Zivilbevölkerung, und möge er auch aus noch so edlen Motiven geschehen, ein ganz bestimmtes Licht auf unseren Predigttext wirft. 

In ihm geht es um einen versuchten Auftragsmord. Die Bibel lehrt uns, in dem Beinahe-Mörder einen Menschen mit edlen Motiven zu sehen. Doch seine Tat ist und bleibt grausam, und es fällt uns heutigen schwer, Verständnis für diesen Menschen Abraham aufzubringen. Ich möchte Ihnen den Text vorlesen und ihnen dann erklären, warum uns jegliches Verständnis so schwerfällt. 

Die Geschichte steht im 1. Buch Mose, Kapitel 22. Ich lese sie Ihnen vor: 

Gott stellte Abraham auf die Probe.
Er sagte zu ihm: »Abraham!«
Der antwortete: »Hier bin ich!«
Gott sagte: »Nimm deinen einzigen, deinen geliebten Sohn Isaak, und geh mit ihm in das Land Morija. Bring ihn dort als Brandopfer dar – auf einem Berg, den ich dir nennen werde.«
Am nächsten Morgen stand Abraham früh auf und sattelte seinen Esel. Er nahm zwei seiner Knechte und seinen Sohn Isaak mit
und hackte Holz für das Brandopfer. Dann brach er auf und ging zu dem Ort, den Gott ihm genannt hatte.
Am dritten Tag sah Abraham den Berg in der Ferne. Da sagte er zu seinen Knechten: »Bleibt mit dem Esel hier. Der Junge und ich, wir gehen dort hinauf, um zu beten. Dann kommen wir zu euch zurück.«
Abraham nahm das Holz für das Brandopfer und lud es seinem Sohn Isaak auf. Er selbst nahm das Feuer und das Messer in die Hand. So gingen die beiden gemeinsam weiter.
Isaak sagte zu Abraham, seinem Vater: »Mein Vater!«
Der erwiderte: »Ja, mein Sohn?
Isaak fragte: »Hier sind Feuer und Holz. Aber wo ist das Lamm für das Brandopfer?«
Abraham antwortete: »Gott wählt sich das Opferlamm aus, mein Sohn.« So gingen die beiden gemeinsam weiter.
Sie kamen an den Ort, den Gott ihm genannt hatte. Dort baute Abraham einen Altar und schichtete das Holz darauf.
Dann fesselte er seinen Sohn Isaak und legte ihn auf den Altar, oben auf das Holz. Abraham streckte seine Hand aus und ergriff das Messer, um seinen Sohn als Opfer darzubringen.
Da rief ein Engel des Herrn vom Himmel her: »Abraham! Abraham!«
Der antwortete: »Hier bin ich!«
Der Engel sagte: »Streck deine Hand nicht nach dem Jungen aus und tu ihm nichts an! Jetzt weiß ich, dass du wirklich Ehrfurcht vor Gott hast. Deinen einzigen Sohn hast du mir nicht vorenthalten.«
Als Abraham aufsah, erblickte er einen Widder hinter sich. Der hatte sich mit seinen Hörnern im Gestrüpp verfangen. Abraham ging hin, ergriff den Widder und brachte ihn anstelle seines Sohnes als Brandopfer dar.
Abraham nannte diesen Ort »Der Herr sieht«.
Deshalb sagt man noch heute: »Auf dem Berg, wo der Herr sich sehen lässt.« 

So weit der Predigttext. Es ist eine Versuchungsgeschichte, so wird uns gleich zu Beginn gesagt. Wir werden von Anfang an als Hörende darauf eingestellt: Das hier ist ein Test gewesen; ein grausamer Test, ja, aber er endet nicht im Mord: Gott stellt Abraham auf die Probe. 

Der Einleitungssatz stellt diese Geschichte in eine Reihe von biblischen Versuchungsgeschichten.
Gott lässt den Satan Hiob versuchen, er lässt ihn Hiobs Familie und all sein Gut rauben – und doch bleibt Hiob Gott treu – auch wenn diese Versuchung sehr blutig ausgeht.
Der Teufel versucht Jesus, versucht ihn mit dem Versprechen von Sattheit, Reichtum und Macht aus der Reserve zu locken, aber Jesus bleibt Gott treu.
Und hier will Gott Abrahams Gehorsam testen: Wie weit kann er gehen? Würde er sogar sein eigenes Kind opfern, das Kind, das ihm das Liebste und Wichtigste auf der Welt ist? Nimm deinen einzigen, deinen geliebten Sohn Isaak, sagt Gott. Und es ist das erste Mal in der Bibel, dass ein Mensch als ein geliebter Sohn bezeichnet wird. 

Wir hören im weiteren Verlauf Abrahams schweren Gang, wie er frühmorgens mit Isaak aufbricht, wie er den Berg Morija schon in der Ferne sieht, wie er seinem Sohn das Holz fürs Brandopfer auflädt. Und je näher wir dem Schrecken kommen, desto detailreicher wird die Geschichte. Was empfindet der Vater, wenn der Sohn ihn fragt: Hier sind Feuer und Holz. Aber wo ist das Lamm für das Brandopfer?«

Wir heutige tun uns schwer mit dem Auftraggeber. Woher weiß Abraham, dass Gott wirklich diesen Mord will? Warum entscheidet sich Abraham für Gott und nicht für seinen Sohn? Warum glaubt er überhaupt noch an Gott – wäre es nicht besser, er gäbe seinen Glauben an diesen grausamen Gott auf?

So denken wir modernen Menschen. Aber wir müssen uns zurückversetzen in eine Zeit, in der Gott ganz selbstverständlich dazugehört, wo keine Wahl besteht: Glaube ich an ihn oder nicht? Sondern wo die Wahl lautet: Füge ich mich dem, was ich tun muss, oder verweigere ich mich dem? 

Wir müssen uns in eine Zeit zurückversetzen, in der Gott für das ultimativ Gebotene steht. Wie für die Menschen, die auszogen, Hitler zu besiegen: Darf ich das, Bomben auf unschuldige Menschen abwerfen? 

Wir können uns heute empören über den unsinnigen Befehl, die Bevölkerung zu tyrannisieren. Wir mögen heute schlauer sein als die Menschen damals, weil wir zu der Auffassung gekommen sind, diese Grausamkeiten haben nicht den Krieg beendet, sie haben die Nazis nicht überwältigt. 

Aber der Mensch, der sich damals in einen Bomber gesetzt hat, der den Hebel betätigt hat, der mag sich – wenn er denn ein frommer Mensch gewesen ist – wie Abraham gefühlt haben. »Abraham!« – »Hier bin ich!« – »Nimm deinen einzigen, deinen geliebten Sohn Isaak, und geh mit ihm in das Land Morija. Bring ihn dort als Brandopfer dar, auf einem Berg, den ich dir nennen werde.« 

Versuchungsgeschichten sind grausame Geschichten, grausam, wie das Leben selbst. Dürfen Bundeswehrsoldaten auf Auslandseinsätze gehen, dürfen sie Menschen töten, wenn sie ein robustes Mandat haben, um friedliche oder demokratische Strukturen gegen einen übermächtigen Gegner durchzusetzen? Dürfen die Soldaten in der Ukraine Russland beschießen – dürfen sie denn ihr eigenes Land beschießen, das Fremde besetzt halten – ihr eigenes Land, in dem ihresgleichen leben? Wir müssen uns nur ausmalen, was geschähe, wenn sie es nicht täten. Und wir sehen, wie ein höheres „Du sollst“ Menschen in wahnwitzige Dilemmata treiben kann. Davon, so glaube ich, handelt die Geschichte von der Versuchung des Abraham. 

Und als wäre dies alles nicht schwierig genug, legt die christliche Theologie noch eine Schippe obendrauf. Wir nähern uns der Karwoche. Kommenden Sonntag ist bereits Palmsonntag – Jesus zieht in Jerusalem ein. 

Und dann vollzieht sich vor unseren Augen das Elend, wie die Hosianna rufende Menge auf einmal „Kreuzige“ fordert. Wie Jesus seinen letzten Gang antritt. Und wie den Jüngern im Nachhinein dämmert: „Musste es nicht alles genau so geschehen?“

Musste es wirklich? Musste Gott seinen eigenen, seinen geliebten Sohn den Menschen zum Opfer geben? "Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn für sie hingab. Jeder, der an ihn glaubt, soll nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben."

Der Sohn ist nicht der Opfernde. Er ist derjenige, der selbst das Opfer bringt. Er ist Isaak. Er lässt die Passion über sich ergehen, um den Menschen zu zeigen: Lasst das nie wieder zu. 

Auch dieses Gotteswort kommt durch die heilige Schrift zu uns: 
„Ich habe keinen Gefallen an euren Opfern.
Vielmehr soll das Recht wie Wasser strömen
und Gerechtigkeit wie ein Bach, der nie versiegt.“ 

Wir gehen auf die Passion zu. Wir versuchen zu begreifen, versuchen den Nebel zu lichten, den Hass und Gewalt, Rache und Gegengewalt in uns anrichten. Wir suchen Gott in alledem, seinen Willen. Wir versuchen zu verstehen, was Gottes Wille über alle dem ist, was wir nach bestem Wissen und Gewissen ergründen können. 

Wir suchen nach der Liebe Gottes, aus der wir leben, und die sich uns letztendlich in Jesus Christus offenbart. Wir gehen auf Ostern zu. Amen

Dies könnte Sie auch interessieren

0
Feed