08/08/2024 0 Kommentare
Zaubermomente und wie sie vergehen
Zaubermomente und wie sie vergehen
# Predigt
Zaubermomente und wie sie vergehen
Liebe Gemeinde!
Vorbei sind die Tränen, das Weinen, der Schmerz. Vorbei sind das Elend, der Hass und der Streit. Wie schön wäre das, was wir eben im Predigtlied besungen haben! Und wie viele von uns sehnen sich das herbei!
Vorbei ist die Herrschsucht, die fressende Macht, die drohenden Fäuste sind nicht mehr geballt. Können Sie sich das ausmalen? Können Sie sich eine Welt ohne die vielen kleinen und großen Putins vorstellen? Eine Welt, in der sich alle Menschen stark fühlen können, auch ohne dass sie dafür andere kränken müssen, andere erniedrigen müssen, andere fertig machen müssen?
Gott wohnt bei den Menschen, die Zeit ist erfüllt. Gott wischt ab die Tränen, er tröstet, er lacht. Gott macht alles neu. Wie schön wäre das?!
Plötzlich ist so ein Moment da. Jesus hat sich als der große Wundertäter erwiesen, der sogar Tote wieder lebendig machen kann. Die Leute sind begeistert.
So ein Zaubermoment kann auch ganz anders aussehen. Im November 1989 haben wir ihn in Deutschland erlebt. Die Mauer, die Berlin durchtrennt hatte, fiel, die Blockkonfrontation endete. Und auf einmal war so viel Hoffnung da. Endlich Schluss mit der atomaren Bedrohung. Endlich Frieden, Versöhnung. Endlich können wir uns den wirklich wichtigen Dingen zuwenden.
Auch Israelis und Palästinenser erlebten so einen Zaubermoment, als das Friedensabkommen von Oslo unterzeichnet war. Die Palästinenser in Jericho tanzten auf der Straße, verbrüderten sich mit Israelis: Endlich Frieden, endlich friedliche Koexistenz von Israelis und Palästinensern.
Schwarze US-Bürgerinnen und Bürger konnten es nicht fassen, dass mit Barack Obama tatsächlich ein Schwarzer US-Präsident wurde. Endlich hat die Schmach ein Ende, dachten nicht wenige. Endlich erkennt man in uns auch Bürgerinnen und Bürger, sieht man uns als gleichwertige Menschen, traut man uns zu, dass wir auch etwas auf die Beine stellen können. Auch so ein Zaubermoment.
Und in Äthiopien schien der Frieden greifbar nahe, als Abi Ahmad zum Ministerpräsidenten gewählt wurde und über Nacht Friedensverhandlungen mit dem bisherigen Feind Eritrea aufnahm. Die Welt staunte. Und Abi Ahmad bekam im Jahr darauf den Friedensnobelpreis verliehen.
Plötzlich öffnet sich ein Fenster. Und man erstaunt, wie einfach alles gehen kann. Und wie viel Last einem die ganze Zeit auf der Seele lag, die nun auf einmal von einem fällt!
In solchen Zeiten stimmen wir Loblieder an:
Vorbei sind die Tränen, das Weinen, der Schmerz. Vorbei sind das Elend, der Hass und der Streit.
Vorbei ist die Herrschsucht, die fressende Macht, die drohenden Fäuste sind nicht mehr geballt.
Gott wohnt bei den Menschen, die Zeit ist erfüllt. Gott wischt ab die Tränen, er tröstet, er lacht. Gott macht alles neu.
Doch dann merken wir plötzlich: Die kleinen und großen Putins laufen noch überall herum. Manchmal, wenn wir ungeduldig sind oder die Beherrschung verlieren, erschrecken wir, weil wir an uns selbst Züge spüren, wie wir selbst Macht ausüben, wie wir uns selbst über andere hinwegsetzen, wie wir selbst die Illusionen anderer zertrümmern, wie in uns selbst der kleine Putin hochkommt.
»Hosianna!«, ruft die Menschenmenge in Jerusalem begeistert. »Gesegnet sei, wer im Namen des Herrn kommt! Er ist der König Israels!« Aber sie merken gar nicht: Der neue Feldherr, der neue Heilsbringer, der neue König, er zieht nicht auf einem stolzen Pferd ein. Er kommt ja bloß auf einem Esel geritten. Er ist ja nur eine Karikatur seiner selbst.
In der biblischen Erzählung laufen die Machtgierigen weiter durchs Bild. Sie geben sich als Realpolitiker. Sie fragen sich, als Jesus Lazarus von den Toten auferweckt hat: »Was sollen wir machen? Dieser Mensch tut viele Zeichen! Wenn wir ihn so weitermachen lassen, werden alle an ihn glauben. Dann werden die Römer kommen und uns den Tempel und das Volk nehmen.«
Die Machtgierigen finden immer einen Grund, warum sie einschreiten sollen. Und oft genug verkleidet sich dieser Grund als Fürsorge, als vorausschauendes Handeln, als politische Weitsicht.
Die Machtgierigen spüren den Zaubermoment auch gar nicht. Während alles Volk Jesus zujubelt, sagen sie zueinander: »Da merkt ihr, dass ihr nichts machen könnt. Alle Welt läuft ihm nach!«
– – –
Warum scheitert die Menschheit immer wieder an sich selbst? Warum entsteht aus diesen Zaubermomenten der Geschichte nichts? Warum ergreifen wir nicht die Chancen, die sich uns bieten.
Vielleicht sagen Sie jetzt: Warum vermasseln unsere Entscheidungsträger immer alles, wenn es gerade gut läuft? Aber ist es denn so, dass wir uns über die Entscheidungsträger erheben können, dass wir sagen können: „Wenn wir an deren Stelle gewesen wären, wir hätten es besser gemacht!“? „Wir hätten den Frieden gerettet! Wir hätten etwas aus diesem Zaubermoment der Geschichte gemacht!“ – Hätten wir das wirklich?
Wahrscheinlich hat es einen Grund, dass wir die Macht, die Zuständigkeit für die großen politischen Entscheidungen, allzu gern an diejenigen delegieren, die sich große politischen Entscheidungen und Weichenstellungen auch zutrauen. Und es ist ja auch gut, dass wir ihnen in einer Demokratie ihre Macht nur auf Zeit verleihen. Sie sollen sich anstrengen, das Beste daraus zu machen, sonst wählen wir sie nicht wieder.
Aber wenn wir sie dann scheitern sehen, dann wäre es vermessen zu behaupten, wir hätten es besser gewusst, wir hätten es besser gekonnt, wir hätten den besseren politischen Riecher gehabt.
– – –
Der Predigttext für den heutigen Sonntag nimmt all diese Gedanken auf. Er setzt da ein, wo wir mit unseren Gedanken nicht weiterkommen, wo wir in einer gedanklichen Sackgasse steckenbleiben.
Ich lese Ihnen den Predigttext aus Philipper 2, Verse 5 bis 11 vor. Paulus ermahnt darin die Gemeinde von Philippi, sich Jesus anzugleichen. Hören Sie selbst, was er sagt:
Haltet euch im Umgang miteinander immer an das, was der Gemeinschaft mit Christus Jesus entspricht. Denn:
Er war von göttlicher Gestalt.
Aber er hielt nicht daran fest, Gott gleich zu sein,
wie ein Dieb an seiner Beute festhält.
Er legte die göttliche Gestalt ab
und nahm die eines Knechtes an.
Er wurde in allem den Menschen gleich.
In jeder Hinsicht war er wie ein Mensch.
Er erniedrigte sich selbst
und war gehorsam bis in den Tod –
ja, bis in den Tod am Kreuz.
Deshalb hat Gott ihn hoch erhöht:
Er hat ihm den Namen verliehen,
der hoch über allen Namen steht.
Denn vor dem Namen von Jesus
soll sich jedes Knie beugen –
im Himmel, auf der Erde und unter der Erde.
Und jede Zunge soll bekennen:
»Jesus Christus ist der Herr!«
Das geschieht zur Ehre Gottes, des Vaters.
Paulus zitiert ein Loblied auf Christus, einen Christushymnus, der das zum Ausdruck bringt, was nach dem Einzug in Jerusalem geschah: Die Mächtigen entschieden, sie müssten Jesus beseitigen, aus dem Weg schaffen. „Lassen wir Jesus gewähren, dann kommen die Römer und nehmen uns Tempel und Volk“, räsonnieren sie. Und der Hohepriester Kaiphas rät: „Es ist besser, ein Mensch sterbe für das Volk, als dass das ganze Volk verderbe.“ In dem was Kaiphas hier als politische Vernunft verkaufte, erkennt der Evangelist Johannes eine tiefere Wahrheit: „Jesus sollte sterben für das Volk und auch, um die verstreuten Kinder Gottes zusammenzubringen.“
Und Jesus wehrt sich nicht. Er stellt nichts richtig. Er flieht nicht. Er schimpft und hadert nicht. Er lässt einfach geschehen, was geschehen muss.
Die Mächtigen stellen Jesus nach. Die eigenen Jünger liefern ihn aus, verleugnen ihn, fliehen in alle Himmelsrichtungen. Und das Volk gröhlt: „Kreuzigt ihn!“
Und Jesus lässt alles an sich geschehen. Nur die Frauen, die heimlich und nur als passive Beobachterinnen gefolgt sind, sehen ihn. Und sie sehen einen Menschen, an dem sich die ganze Unfähigkeit der Menschheit, ihre Bosheit, ihre Selbstzufriedenheit sich auslässt. Sie sehen wie sie einen, der überhaupt nichts gemacht hat, im Gegenteil, der um sich herum Frieden und Heil geschaffen hat, einfach nur fertig machen.
Er trägt die Sünde der ganzen Welt, das sehen die Frauen. Und sie verstehen, was die Propheten gesagt haben, als sie die Worte eines treuen Gottesknecht zitierten, der sagt:
„Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.“
Und sie verstehen, was die Propheten über diesen Menschen noch sagten:
„Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre.
Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen.
Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.
Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der HERR warf unser aller Sünde auf ihn.
Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf.“
Und – so führt es der Christushymnus fort, den Paulus zitiert –
er erniedrigte sich selbst
und war gehorsam bis in den Tod.
Deshalb hat Gott ihn hoch erhöht:
Er hat ihm den Namen verliehen,
der hoch über allen Namen steht.
Haltet euch im Umgang miteinander immer an das, was der Gemeinschaft mit Christus Jesus entspricht, hatte Paulus gemahnt.
Seid nicht die, die Unrecht tun. Seid die, die Unrecht erleiden.
Seid nicht die, die Hass predigen. Seid die, die Hass erdulden.
Seid nicht die, die Unmut streuen. Seid die, die Unmut abbekommen.
So tut ihr, was dem Frieden dient, wie auch Christus tat, was dem Frieden dient. Und dann habt ihr Gemeinschaft mit Christus, dann seid ihr ein Teil Christi, den Gott hoch erhöht hat, dem er einen Namen gegeben hat, der hoch über allen Namen steht: Christus.
Denn vor dem Namen von Jesus
soll sich jedes Knie beugen –
im Himmel, auf der Erde und unter der Erde.
Und jede Zunge soll bekennen:
»Jesus Christus ist der Herr!«
Das geschieht zur Ehre Gottes, des Vaters.
Amen.
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