08/08/2024 0 Kommentare
Passionspunkt III: Ludwigstraße 180 (Heyne-Fabrik)
Passionspunkt III: Ludwigstraße 180 (Heyne-Fabrik)
# Neuigkeiten
Passionspunkt III: Ludwigstraße 180 (Heyne-Fabrik)
Musik: Ingolf Griebsch
Anmoderation (Pfr Burkhard Weitz):
Herzlich Willkommen zum dritten Passionspunkt in Offenbach. Herzlich Willkommen in der Heyne-Fabrik, im Hof Eingang Ludwigstraße 180. Mein Name ist Burkhard Weitz. Ich bin Pfarrer an der Friedenskirche Offenbach.
Wo wir heute stehen, wurden von 1896 bis 1968 Präzisionsdrehteile und Metallschrauben hergestellt. die Brüder Ernst und Georg Heyne hatten die Firma aber schon ein gutes Vierteljahrhundert früher gegründet, bevor die Firma hier ins Hafengebiet zog.
Dietrich Meyer, ein Gemeindemitglied der Friedenskirche, hat noch die Söhne eines der beiden Firmengründer gekannt. Er erinnert daran, dass die Familie Heyne zu den größten Mäzenen beim Bau der Friedenskirche zählte. Dietrich Meyer hat auch Kurt Heyne als Vorstand des Fechtclubs Offenbach kennen gelernt. Kurt Heyne hinterließ bei Dietrich Meyer einen tiefen Eindruck, weil er aus einer der reichsten Familien kam und dennoch äußerst bescheidenen und sozial eingestellt war.
Wir erinnern uns leicht an Menschen, die wir namentlich kennen. Denn mit ihnen verbinden wir Geschichten, Erzählungen, Anekdoten. Die anderen, die mit den fremden Namen, verlieren wir dagegen schnell aus dem Blick.
Ein besonders großer Dank geht daher an die Geschichtswerkstatt Offenbach. Ihre Mitglieder haben geholfen, die Namen der 17 Zwangsarbeiter aus der Heyne-Fabrik, die hier im November 1944 ums Leben kamen, ausfindig zu machen – und sie öffentlich ins Bewusstsein zu rufen.
Heute ist Günter Burkard von der Geschichtswerkstatt unser Historiker und Spezialist. Vielen Dank Günter Burkard, dass Sie die Geschichte der Zwangsarbeiter für uns aufgearbeitet haben.
Mit ihm sei auch Barbara Leissing genannt, die sich ganz wesentlich um dieses Stück Offenbacher Geschichte verdient gemacht hat. Überhaupt hat Barbara Leissing diese Reihe von Passionspunkten mit mir vorbereitet. Barbara Leissing kann diese Woche leider nicht dabei sein.
Ein weiterer Dank geht an die Immobilien-Hauptverwaltung der Heyne-Fabrik, der Terrania-AG in München. Namentlich sei Nuria Dost hervorgehoben, hier vor Ort unsere Ansprechpartnerin. Herzlichen Dank an Frau Dost, dass Sie uns die Erlaubnis für das Gedenken auf dem Gelände vermittelt und dieses öffentliche Gedenken möglich gemacht haben.
Ein Dank auch an die Mitarbeiterinnen vom Levi-Strauss-Showroom hinter mir. Sie haben sich für unser Gedenken auch sehr offen gezeigt. Der Showroom hatte heute auch schon vor anderthalb Stunden Feierabend, insofern kommen wir niemandem ins Gehege.
Danke an unseren Saxophonisten Ingolf Griebsch und friends. Ingolf ist der Friedenskirche herzlich verbunden und organisiert immer wieder Musik-Events, vor allem in unserem Pfarrgarten. Danke, dass du immer wieder etwas Großartiges auf die Beine stellst! Danke, dass ihr da seid! Danke für eure Musik!
Ein Dank geht auch an die offene Stadtkirchenarbeit unter Leitung von Manuela Baumgart, die uns mit ihrer Erfahrung und ihren Kontakten viele Türen geöffnet hat.
Günter Burkard, Sie haben das Wort:
Bericht Günter Burkard (Namen vorgetragen von Daniel July)
Auf dieser Fototafel ist ein Gedächtnisstein zu sehen, der seit 1989 auf dem Offenbacher Neuen Friedhof steht. Darauf ist zu lesen: „Zum Gedenken an die Zwangsarbeiter – Männer, Frauen und Kinder. Sie wurden aus ihren Heimatländern verschleppt und zur Kriegsproduktion missbraucht. Viele kamen in den Jahren 1943 bis 1945 in Offenbacher Betrieben und Lagern ums Leben. Zur Erinnerung und Mahnung“
Am 5. November 1944, einem Sonntagmorgen, kurz nach 11 Uhr, fanden auf diesem Fabrikgelände bei einem Bombenangriff, dem sie schutzlos ausgeliefert waren, 17 Menschen den Tod. Ihr Schicksal ist heute nicht unbedingt im öffentlichen Bewusstsein. Auch das ist ein Grund, ihrer heute zu gedenken.
Die Menschen, die damals ums Leben kamen, drohen in Vergessenheit zu geraten. Deshalb halten wir es für richtig und wichtig, ihre Namen hier und heute zu benennen, ihre Heimatorte und ihr Alter zum Zeitpunkt ihres Todes – ihres jungen, oft noch sehr jungen Alters.
Nennt ihre Namen – das gilt auch hier. Die Liste mit Namen, Orte und Geburtsdaten, die wir heute nennen, ist 1989 im Hauptamt der Stadt Offenbach erstellt worden. Sie wurde an Frau Ludmila Polenowa, damals Vorsitzende des Friedenskomitees und des Sowjetischen Friedensfonds in Minsk, verschickt.
Wir verlesen die Namen in drei Gruppen und beginnen mit fünf Frauen, die zum Zeitpunkt ihres Todes gerade mal 20 Jahre alt waren.
- Frosina Jarina aus Jarudia,
- Eugenie Pachuta aus Lesnewo,
- Paraska Potapenko aus Debriwnik,
- Anna Sabrodina aus Nowotscherkassk nordöstlich von Rostow am Don
- und Nina Maklakowa aus Sarudia (sie wäre erst im Dezember 20 Jahre alt geworden).
Und wir nennen an dieser Stelle drei Männer, die alle aus dem gleichen Ort stammten, aus Taganrod, einer Stadt am Nordostofer des Asowschen Meeres zwischen Rostow am Don und der Grenze zur Ukraine. Einer von ihnen war auch noch 19 Jahre alt:
- Wladimir Fesenko,
- Ebenfalls aus Taganrod stammten der 24jährige Eugen Muchin
- und der 36jährige Iwan Poleschtscheiak.
Der Bombenangriff an diesem Sonntagmorgen – ausgeführt von Einheiten der US-Airforce – galt eigentlich dem Verschiebebahnhof und Hafenanlagen im Osten Frankfurts. Westwind trieb die Leuchtbomben zur Zielmarkierung ostwärts. Weil die Bomberstaffel zeitlich verzögert ankam, warf sie ihre Bomben über dem Offenbacher Nordend ab.
In wenigen Minuten gingen hier etwa 300 Bomben herunter. Es waren fast unlöschbare Brandbomben, sogenannte „Phosphorstäbe“, und Sprengbomben, die dem Feuersturm den Weg öffneten und ihn noch zusätzlich anfachten. Eine Bombe fiel genau auf das Zwangsarbeiterlager der Heyne-Fabrik – und tötete hier in kürzester Zeit jene 17 Menschen.
Wir hören weitere vier Namen derer, die damals zu Tode kamen:
- die 22-jährige Oksana Anatska aus Wessela-Dolina,
- die 27-jährige Tatjana Juschko aus Kowaliwka,
- den 30-jährigen Andre Kosslow aus Nowo-Iwanowska und
- die 24-jährige Marta Schapowal aus Sarudia.
Der Angriff vom 5. November war nicht der erste und blieb auch nicht der letzte, der Offenbach verwüstete. Nach der Befreiung im März 1945 blieben ca. 1 Million Kubikmeter Bauschutt zurück. Es mag makaber klingen: Aber erstaunlich ist da die mit 750 Toten relativ niedrige Anzahl von menschlichen Opfern. Das verdankten die Menschen in dieser Stadt einer im Vergleich zu anderen hohen Anzahl von Luftschutzräumen.
Das aber nutzte den Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern bei Heyne nichts. Für sie gab es keine Schutzräume. Sie durften Schutzräume erst gar nicht betreten. Ihr Tod im Falle eines Angriffs war damit so gut wie unausweichlich.
Wie waren die Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter überhaupt nach Offenbach gekommen? Schon wenige Tage nach dem 1. September 1939, nach dem Überfall auf Polen und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, begann das Deutsche Reich in den eroberten Gebieten Arbeitskräfte zu verschleppen.
Es hat auch so etwas wie eine halb-freiwillige Rekrutierung in westlichen Ländern wie Frankreich, Belgien und Holland gegeben. Hier handelt es sich um Menschen aus Polen, der ehemaligen Sowjetunion und anderen Ländern Ost-Europas.
Angesichts des Kriegs an mehreren Fronten, der Verluste der Deutschen Wehrmacht und immer mehr Jahrgängen an rekrutierten Soldaten wurde der Bedarf an Arbeitskräften immer größer. So auch in der Industriestadt Offenbach.
Offenbach war der größte Industrie-Standort im Bereich Hessen-Nassau. Der Mangel an Arbeitskräften machte sich hier besonders scharf bemerkbar – und führte dazu, dass entsprechend viele Zwangsarbeiter hierhergebracht wurden. Im Sommer 1941 waren es hier 1.343, im Frühjahr 1943 über 2.900 – insgesamt sollen es mehr als 3.600 gewesen sein. Es gibt Schätzungen, dass Mitte 1944 bis zu 40% aller Offenbacher Arbeitsplätze mit Zwangsarbeitsleistenden besetzt waren.
Zwangsarbeit gab es nicht nur in 37 Industriebetrieben, es gab sie in praktisch allen Gewerbezweigen, auch in öffentlichen Einrichtungen, von der Stadtverwaltung über die Hafenbetriebe bis zur Caritas; in der Landwirtschaft und sogar in Haushalten. Vereinzelt gab es Unterbringungen in Privathaushalten, die meisten aber waren in Sammelunterkünften wie Turnhallen untergebracht, oder aber in Lagern. Ein Netz von 37 Lagern überzog die ganze Stadt; Gemeinschaftslager und auch solche auf Firmengeländen – wie hier bei Heyne.
Die Firma Gebrüder Heyne war eine Metall-Fabrik für Schrauben- und Formdreherei. Im Krieg produzierte sie auch Zünderteile für die Wehrmacht. Vor dem Krieg hatte sie knapp 900 Beschäftigte – schon 1941 war sie mit 1.824 Beschäftigten die größte Fabrik vor Ort. 1944 waren es 2.500 Beschäftigte.
Um die Produktion aufrechtzuerhalten, forderten die drei Geschäftsführer Wilhelm, Julius undHermann Heyne (Zwangs)-Zivilarbeitskräfte „aus dem Osten“ an. Sie bekamen sie umgehend: Ab Mai 1942 arbeiteten hier „Zivilarbeiter Nationalität Osten“, wie es im damaligen Amtsdeutsch hieß. Am 11. Mai 42 waren es zunächst nur Männer – der jüngste 15 Jahre alt. Vier Wochen später folgten Frauen im Alter von 15 bis 22 Jahren. 51 von ihnen stammten aus Russland, 60 aus der Ukraine, 17 galten als „Sonstige“. Unter anderem kamen sie aus dem heutigen Bosnien-Herzegowina. Für alle wurde ein firmeninternes Lager gebaut – nordwestlich der eigentlichen Fabrik und abseits der Industriebahngleise (am Nordring/Lilistraße, heute Parkplatz).
Während andere Offenbacher an diesen Sonntagmorgen am 5. November 1944 in ihre Luftschutzbunker fliehen konnten, blieben die Zwangsarbeiter, die damals auf dem Fabrikgelände waren, dem Bombenangriff in ihren Baracken schutzlos ausgeliefert.
Fünf von ihnen haben wir noch nicht genannt. Die beiden ältesten hießen
- Marian Tadulewitsch aus Welikij-Luki, 42 Jahre und
- Wassili Sacharenko aus Dniepropetrowsk, 39 Jahre alt ...
Die drei jüngsten hießen
- Valentin Osezinski aus Nowo Borissow, 18 Jahre alt,
- Dimytri Neretin aus Nowo-Schachtinsk – er war zwei Tage zuvor 18 Jahre alt geworden – und
- Nadja Kaluhina aus Nowotscherkassk, sie kam zwei Tage vor ihrem 17. Geburtstag ums Leben.
Wie ging es nach dem Angriff am 5. November weiter? Die Produktion war vom Angriff nicht direkt betroffen und lief weiter. Für die Überlebenden wurde ein Ersatzlager an der Ludwigstraße – an der Ecke zur Andréstraße – gebaut. Als US-amerikanische Soldaten am 24. März 1945 Offenbach befreiten, konnten sie nur noch das fast leere Lager auflösen. Im Rathaus fand sich eine Aktennotiz vom 8. März, dass 175 Lagerinsassen (Zitat) „mit Ziel unbekannt in Marsch gesetzt“ worden waren.
Eine Offenbacherin, die als Schulmädchen in der Fabrik Arbeitsdienst verrichtete, erfuhr später, dass eine ganze Reihe von Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen nach dem Krieg, die in ihre Heimat zurückgekehrt sind, dort bestraft wurden – teils mit dem Tode – weil sie ja „für die Deutschen gearbeitet“ hätten.
17 von ihnen hatten den Tod an einem Ort gefunden, an den sie gar nicht sein wollten, wohin man sie gewaltsam verbracht hatte. Sie hatten den Tod in einem Krieg gefunden, für dessen Verursacher sie unter Zwang und unmenschlichen Bedingungen schuften mussten.
Musik: Ingolf Griebsch
Theologische Reflexion (Pfr Burkhard Weitz)
Wer waren die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, die während des Zweiten Krieges aus den besetzten Gebieten nach Deutschland verschleppt worden waren?
Viele von uns kennen aus unseren Familien Geschichten über Zwangsarbeiter. Auf dem Hof meines Großvaters arbeiteten einige. Die älteste Schwester meines Vaters hat Jahrzehnte nach dem Krieg zu einer ehemaligen Zwangsarbeiterin und ihren Kindern Kontakt aufgenommen und diesen Kontakt auch über viele Jahre gehalten.
Eine meiner früheren Kolleginnen aus der Redaktion chrismon hat, als sie das Erbe ihrer Großeltern antrat, die frühere Zwangsarbeiterin auf dem Hof ihrer Großeltern in Rumänien ausfindig gemacht und mit ihr und ihren Nachfahren das Erbe geteilt.
Immer wieder höre ich von solchen freundlichen und fairen Gesten der Versöhnung. Es sind für mich Zeichen der Hoffnung. Sie zeigen mir: Mit Anstand können wir die Gräben, welche unsere Vorfahren durch Europa rissen, überwinden. Wir durchbrechen das Klischee vom bösen Deutschen. Wir zeigen: Wir können anders sein als sie.
Zwangsarbeiter, das Wort benutzt man nicht so gerne, vor allem, wenn sie für die eigenen Familie arbeiten mussten. Vor allem, wenn die eigene Familie kolportiert, sie hätten mit am Tisch gesessen. Man habe sie gut behandelt. Sie hätten selbst auch nach dem Krieg von der guten Behandlung in unseren Familien erzählt. Lieber sagt man daher „Fremdarbeiter“.
„Fremdarbeiter“ passt auch. Denn fremd sind sie geblieben, auch wenn sie in unseren Familien am Tisch saßen. Fremd waren schon ihre Namen. Frosina, Eugenie, Paraska, Wladimir. Namen, die sich die Kinder eine Weile merkten, weil sie mit ihnen aufwuchsen. Aber die sie dann auch schnell wieder vergaßen, weil es sonst niemanden gab, der so hieß. Weil man nach dem Krieg mit diesen Namen sonst keine anderen Geschichten verband als die, die Scham und Abwehr hervorriefen.
„Say their names“, „sprecht ihre Namen aus“, dazu ruft die Aktion „Demokratie leben“ in unserer Nachbarstadt Hanau auf. „Say their names“, vergesst nicht die Namen, die Gesichter, die Geschichten jener Nachbarn, Mitbürgerinnen, Bekannten und Unbekannten, die ein rechtsextremistischer Attentäter am 19. Februar 2020 in Hanau ermordete. Sprecht ihre Namen aus, lasst nicht zu, dass sie in Vergessenheit geraten.
Wir müssen einen kleinen gedanklichen Umweg machen, um zu verstehen, warum das Erinnern der Namen so wichtig ist. Und dazu mute ich Ihnen ein kleines Gedankenexperiment zu.
Wer von Ihnen kennt die Namen Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat? Ich vermute, nicht sehr viele von Ihnen. Oder vielleicht haben Sie einzelne Namen schon einmal gehört – aber in welchem Zusammenhang?
Die frühere Freundin meines Sohnes heißt Selin. Sie stammt aus einer türkischen Familie. In ihrer Familie und im Bekanntenkreis ihrer Familie gibt es Menschen, die so heißen: Enver, Abdurrahim, Süleyman, Habil, Mehmed, İsmail, Halit. Sie verbindet mit diesen Namen Gesichter, Erlebnisse und Geschichten. Sie kann sich diese Namen merken, kann ihre Gesichter, Erlebnisse und Geschichten gegen diejenigen aus ihrer Familie und aus dem Bekanntenkreis ihrer Familie abgleichen. Selin kennt alle Namen, die ich Ihnen vorgelesen habe. Sie weiß auch woher.
Und wer von Ihnen kennt die Namen Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe? Ich vermute, Sie alle. Und ich sage Ihnen gleich dazu: Mir geht es genau wie Ihnen. Ich kenne die Namen der Mörder. Ich verbinde mit Ihnen Gesichter. Ich interessiere mich für Einzelheiten ihrer Biografie, frage mich, wie sie so werden konnten, wie sie wurden. Frage mich, was bei ihnen schiefgelaufen ist. Ich wende mich voll Abscheu von ihnen ab. Ich führe ihre Namen als Beispiele für irregeleitete Menschen in Gesprächsrunden an.
Die Namen derer, die sie ermordeten, kenne ich nicht. Und das ist eine verkehrte Welt. Lieber wäre es mir, wenn ich in mir die Namen der Mörder auslöschte, und nicht die Namen ihrer Opfer.
Ich kann Ihnen nicht die Geschichte des Blumenhändlers Enver Şimşek in Schlüchtern auswendig hersagen. Er war 1986 aus der Türkei nach Deutschland gekommen, hatte als Fabrikarbeiter begonnen, wagte dann den Schritt ins Unternehmertum mit einem Blumenhandel. Daraus wurde ein Großhandel mit angeschlossenen Läden und Ständen. Der erfolgreiche Geschäftsmann half nur zufällig am 9. September 2000 in seinem mobilen Blumenstand in einer Parkbucht aus, als er dort kaltblütig ermordet wurde. Sein Verkäufer hatte Urlaub.
Menschengeschichten lassen sich von allen neun Ermordeten mit den ausländischen Namen erzählen. Anrührende Geschichten. Geschichten, die uns diese Menschen näher bringen.
Namen sind unser erster Zugang zur Identität eines Menschen. Mit dem „Uwe“ aus meiner Schule verbinden mich viele gemeinsame Jahre in einer Schulklasse, verbinden mich etliche gemeinsame Grund- und Leistungskurse, verbindet mich eine gemeinsame Interrailreise durch Frankreich. Immer wieder, wenn ich den Namen Uwe höre, denke ich an ihn. Und plötzlich taucht dieser Name in einem ganz anderen Zusammenhang auf. Und mit dem Namen „Uwe“ verbinden sich nun auch noch zwei Mörder, zwei Typen, die gar nicht zum Uwe meiner Jugend passen.
Die Namen helfen mir, eine oder mehrere Personen zu identifizieren, mit der oder mit denen ich eine gemeinsame Geschichte teile, oder oder mit denen ich meine Geschichte abgleichen kann. Und so identifiziere ich über den Namen auch, mit wem ich es zu tun habe. Der Name macht den Menschen zum Individuum.
Yad Vashem, so heißt die Gedenkstätte für die Opfer der Shoah in Israel. Yad ist hebräisch und heißt „Hand“ – bzw. im übertragenen Sinn auch „Denkmal“. Shem ist das hebräische Wort für den „Namen“. Yad Vashem, „Denkmal und Name“ – für das Gedenken ist der Name von entscheidender Bedeutung. Den Namen gilt es zu erinnern, aufzubewahren, aufzusagen, damit der Mensch nicht in Vergessenheit gerät.
Wenn es darum geht, wessen Name wessen Name aufzubewahren ist und wessen Name auszulöschen ist, dann ist die Bibel äußerst parteiisch. Das biblische Prophetenbuch Jesaja verheißt für alle gottesfürchtigen Menschen (Jes 56,5): „Ihnen allen errichte ich in meinem Haus und in meinen Mauern ein Denkmal, ich gebe ihnen einen Namen, der mehr wert ist als Söhne und Töchter: Einen ewigen Namen gebe ich ihnen, der niemals getilgt wird.“
Daran anknüpfend ruft Jesus von Nazareth denen zu, die ihm nachfolgen (Luk 10,20): „Freut euch, dass eure Namen im Himmel geschrieben sind“. Allen Märtyrern, also all denen, die ungerechtfertigt verfolgt und getötet werden, verheißt die Offenbarung des Johannes im Namen Christi (Apk 3,5): „Ich werde seinen Namen nicht austilgen aus dem Buch des Lebens, und ich will seinen Namen bekennen vor meinem Vater und vor seinen Engeln.“
Und deswegen lese ich die Namen derer noch einmal vor, die hier, auf dem Gelände der Heyne-Fabrik, am 5. November 1944 während eines Luftangriffes ungerechtfertigt in ihren Baracken zurückgelassen wurden und deren Tod im Bombenhagel ein großes Unrecht ist. Wir kennen ihre Lebensgeschichten nicht – vielleicht kennen wir sie noch nicht. Aber uns sind ihre Namen überliefert worden.
- Frosina Jarina aus Jarudia
- Eugenie Pachuta aus Lesnewo
- Paraska Potapenko aus Debriwnik
- Anna Sabrodina aus Nowotscherkassk.
- Nina Maklakowa aus Sarudia,
- Wladimir Fesenko aus Rostow am Don
- Eugen Muchin aus Rostow am Don
- und Iwan Poleschtscheiak aus Rostow am Don
- Oksana Anatska aus Wessela-Dolina
- Tatjana Juschko aus Kowaliwka
- Andre Kosslow aus Nowo-Iwanowska
- Marta Schapowal aus Sarudia
- Marian Tadulewitsch aus Welikij-Luki,
- Wassili Sacharenko aus Dniepropetrowsk.
- Valentin Osezinski aus Nowo Borissow,
- Dimytri Neretin aus Nowo-Schachtinsk – und
- Nadja Kaluhina aus Nowotscherkassk.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und Geduld. Ich wünsche Ihnen eine gesegnete verbleibende Karwoche, ein gesegnetes Osterfest.
Karfreitag vollziehen wir das ungerechtfertigte Leiden Jesu Christi nach. Ostern feiern wir seine Auferstehung. Wir feiern, dass Gott Jesus Christus erhöht hat. Dass er ihm den Namen gegeben hat, der über allen Namen ist: den Namen des Märtyrers. Und dass sich vor ihm die Knie all derer beugen sollen, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind.
Bleibt gesegnet und behütet. Lasst des Herrn Angesicht über euch leuchten, spürt seine Gnade. Und lasst euch mit Frieden beschenken von dem, der sein Angesicht auf euch erhebt. Amen.
Wir hören nun noch Musik von Ingolf Griebsch and friends.
Musik: Ingolf Griebsch
Kommentare