"Die Erde zerfällt ..."

"Die Erde zerfällt ..."

"Die Erde zerfällt ..."

# Predigt

"Die Erde zerfällt ..."

Liebe Gemeinde,

auf was für ein Jahr blicken Sie zurück? Welches Glück hat Sie ereilt, welches Unglück hat Sie getroffen? 

Wir bekommen so viele Jahresrückblicke präsentiert. Wir blicken auf ein Superwahljahr zurück mit der Scheinwahl, der gestohlenen Wahl in Russland, mit Landtagswahlen in Ostdeutschland und dem starken Abschneiden der Sahra Wagenknecht-Partei, mit dem zweiten Wahlsieg von Donald Trump in den USA – und dem Zerbrechen der Ampelkoalition in Berlin und angekündigten Neuwahlen für den Bundestag. 

Wir erinnern uns an die 75 Jahrfeier das Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland und an die Legalisierung von Cannabis. Stark präsent in den Nachrichten waren die fortgeführten Kriege in der Ukraine und im Gazastreifen, mittlerweile auch im Libanon und in der Grenzregion nach Syrien, und das Elend der Menschen in den unter Beschuss leidenden Kriegsgebieten. 

Uns alle hat das Kollabieren des syrischen Regimes innerhalb weniger Tage überrascht. Dann gab es noch eine Fußball-Europameisterschaft in Deutschland, unsere Nationalmannschaft schied aus am Abend unseres Gemeindefestes hier in der Friedenskirche – vielleicht erinnern Sie sich.

Aber erinnert sich noch jemand an die Vulkanausbrüche auf Island und die alle Rekorde brechende Konzerttour der amerikanischen Sängerin Taylor Swift – die meisten Zuschauer, die höchsten Einnahmen, die meisten Privatjetflüge?

Vielleicht geht es Ihnen so wir mir, und Sie sagen sich: Ja, so war das Jahr in den Nachrichten. Aber mein persönliches Jahr war weitgehend unberührt davon. Es kann sein, dass die Auswirkungen eines der Ereignisse für Sie zu spüren war, wenn Sie jemanden aus der Ukraine aufgenommen haben, oder wenn Sie Kontakt zu Israelis oder Palästinenserinnen haben, oder wenn Sie eine Cannabis-Plantage daheim haben.  

Aber die meisten Ereignisse gehen wie Hintergrundrauschen an uns vorüber. Wir nehmen sie als Alarmsignale wahr, denn manche dieser Ereignisse können noch einmal unser Leben beeinträchtigen. Was wird aus Frieden und Freiheit in Europa, wenn sich die Amerikaner unter Trump zurückziehen und sich Russen und Chinesen bei uns breitmachen? Was wird aus unserem Wohlstand, aus unserem Sozialstaat, wenn die Politik in Deutschland versagt, wenn sich lauter unseriöse Parteien breitmachen, unheilbringende Parteien, wenn kurzfristige Aufmerksamkeitswerte an die Stelle einer langfristigen, Stabilität wahrenden Politik treten? Wir hören die Nachrichten wie ständige Warnsignale. Sie machen nervös, verängstigen, verunsichern. Aber war das unser Jahr 2024?

Auf was für ein Jahr blicken Sie zurück? Welches Glück hat Sie ereilt, welches Unglück hat Sie getroffen? 

Vielleicht haben Sie ein normales Jahr ohne große Erschütterungen erlebt, ein arbeitsames Jahr. Und nun stellen Sie sich vor, Sie schreiben den Rundbrief an die ganze Familie und alle Freunde nah und fern, einen Rundbrief zum Jahresende. Was muss da alles hinein? Und Sie merken: Eigentlich war alles wie immer: die Kinder machen sich ganz ordentlich in der Schule; der Sommerurlaub fiel dieses Jahr zwar aus, aber die Ferien waren auch mit kleineren Ausflügen ganz schön; von der Arbeit gibt es nichts Neues zu berichten, außer dass der eine Kollege frühzeitig in Rente ging; die Tante hatte ein Operation, da waren doch alle sehr nervös, aber zum Glück hat sie es gut überstanden. Für manche sah das Jahr vielleicht so aus. 

Für andere war es womöglich aufregender, dramatischer, beängstigender, und Sie wissen bei Ihrem Rundbrief gar nicht, wo Sie anfangen sollen – und was Sie vielleicht besser aussparen sollen, damit sich nicht wieder alle aufregen: Ich habe eine schlimme Diagnose bekommen, aber die Ärzte machen mir Hoffnung; der Streit mit meinem Bruder ist im Herbst so eskaliert, dass wir uns seither gar nicht mehr unter die Augen getreten sind; unsere Tochter macht uns Sorgen, sie hat keine Freude mehr am Leben, und wir kommen nicht mehr an sie heran; mein Mann wurde von der Arbeit suspendiert – man wirft ihm etwas Schlimmes vor. Auch so kann das Jahr für einige für uns ausgesehen haben. 

Und bei all den persönlichen Schicksalsschlägen sind es meist das Unverständnis anderen gegenüber – und schlimmer noch – das eigene Versagen, das einen am meisten herumtreibt: Warum wendet sich mein Mann seit meiner Diagnose so ab, warum finden wir keinen Draht mehr zueinander? Wie konnte der Familienstreit so eskalieren – und habe ich die Größe, mir meinen eigenen Anteil daran zuzugestehen? Was haben wir unseren Kindern gegenüber versäumt, dass jetzt so eine Sprachlosigkeit da ist? Von allen Fragen, die ich mir in Jahresrückblicken vorstellen kann, sind das wohl die schwersten, die ich mit mir herumtragen würde. 

Was ist mir für Unrecht widerfahren – diese Frage lässt sich schnell beantworten. Aber: Was habe ich versäumt, was ist mein Anteil, wo liegt mein Versagen? – Wenn ich einmal so weit bin, mir solche Fragen zu stellen, dann liege ich nachts da und finde gar keinen Schlaf mehr. 

An alle, die nicht mehr weiterwissen, die vor ihrem Jahresrückblick kapituliert sind und lieber nur die „Alles ist gut“-Variante losgeschickt haben, weil alles andere nur besorgte Rückfragen provoziert hätte, die man jetzt gar nicht gebrauchen kann – an all diejenigen richtet sich das biblische Prophetenwort, das als Predigttext für den heutigen Altjahrsabend vorgesehen ist. 

Es ist ein ermutigendes Wort – aber damit es einem wirklich Hoffnung vermitteln kann, muss man es dann doch ein wenig länger betrachten. Wir hören zunächst die Worte aus Jesaja 51,4-6: 

„Hör mir gut zu, mein Volk, und pass auf! Denn von mir kommt Weisung. Bald mache ich meine Rechtsordnung zu einem Licht für die Völker.
Meine Gerechtigkeit ist nahe, meine Rettung ist schon auf dem Weg. Mit starker Hand schaffe ich Recht unter den Völkern.
Auf mich hoffen die Bewohner der fernsten Inseln. Sie warten darauf, dass ich meine Stärke zeige. Schaut hinauf zum Himmel und blickt herab auf die Erde!
Der Himmel verweht wie Rauch, die Erde zerfällt wie ein abgetragenes Kleid. Ihre Bewohner sterben wie die Fliegen. Aber meine Hilfe wird niemals enden, meine Gerechtigkeit ist unerschütterlich.“
 

Jesajas Worte beschreiben eine desolate Wirklichkeit: Der Himmel verweht wie Rauch. Die Erde zerfällt wie ein abgetragenes Kleid. Ihre Bewohner sterben wie die Fliegen.

Er schreibt die Sehnsucht nach Gerechtigkeit, nach einem Licht, einer Rettung, groß. 

Und Gottes Ankündigungen sind wieder einmal voller Optimismus: Von mir kommt Weisung. Meine Rechtsordnung ist ein Licht für die Völker. Mit starker Hand schaffe ich Recht unter den Völkern. Meine Hilfe wird niemals enden. 

Ja, so kennen wir die Bibel, aber ist es auch so in meinem Leben? Was macht Gottes Rechtsordnung zum Licht für die Völker? Wie schafft Gott mir starker Hand Recht? Welche seiner Hilfen endet niemals?  

Wenn ich auf meine Sehnsucht blicke, die sich aus meinem verhängnisvollen Jahresrückblick ergibt, dann wäre es natürlich schön, wenn jemand den mobbenden Kollegen mal kräftig meine Meinung sagen würde; wenn jemand dem maulenden Bruder mal so richtig die Ohren langziehen würde, und wenn das in sich gekehrte Kind, das uns allen Sorgen macht, mal so richtig wachgerüttelt würde. Aber bin ich dann noch da, wo meine Sorgen wirklich sind? 

Ich glaube eher, dieser Lösungsgott ist eher nur übertünchendes Gerede, das mich von dem ablenkt, was mich wirklich gerade hart angeht. 

Von mir kommt Weisung, spricht dieser Gott. Meine Rechtsordnung, Licht für die Völker. Mit starker Hand schaffe ich Recht unter den Völkern.

Und ich denke: Nicht noch weitere Weisungen, nicht noch Ratschläge und Regeln, die ich befolgen muss! Ich habe doch schon genug mit all den Ratgebern zu tun, die sich inzwischen entnervt von mir abwenden, weil wir ja doch nur immer am selben Punkt angelangen und uns unsere Hilflosigkeit eingestehen müssen! 

Und dennoch behaupte ich: Die biblischen Wort sprechen genau in meine, in deine Not hinein! Wir müssen nur, und das war die Erkenntnis, die die Reformation ausgelöst hat, die biblische Anrede neu verstehen lernen. Wir müssen uns für ihre gnädigen Ansprache öffnen – wie es Martin Luther tat, als er über den Satz sinniert: „Der Gerechte wird aus Glauben leben.“

Luther erzählt, wie er eines Tages „den Zusammenhang der Worte begriff, nämlich: der Gerechte wird aus Glauben leben. „Da fing ich an, die Gerechtigkeit Gottes zu verstehen, durch die der Gerechte als durch ein Geschenk Gottes lebt, nämlich aus Glauben heraus. Und dass dies der Sinn sei: dass durch das Evangelium die Gerechtigkeit Gottes offenbart werde, nämlich eine passive, durch die Gott uns in seiner Barmherzigkeit durch Glauben rechtfertigt, wie geschrieben steht: der Gerechte soll aus Glauben leben.“

Von mir kommt Weisung, spricht dieser Gott. Aber es ist nicht der nächste Ratgeber, der mich wieder niederdrückt, weil er meine Last nur noch vergrößert, indem er mir aufzeigt, was ich noch alles versäumt habe. Sondern es ist die Weisung seiner Güte, seiner Nähe: „Ich bin da in deiner Hilflosigkeit. Nimm deine Hilflosigkeit an“, spricht dieser Gott, „dann gibst du mir – Gott – Raum zum Handeln. Dann lässt du mir – Gott – den Raum, den ich brauche, dein Leben wieder in die richtige Bahn zu lenken.“ 

Meine Rechtsordnung ist ein Licht für die Völker – spricht dieser Gott. Aber nicht, weil Gott wieder neues von dir fordert. Sondern weil du in deiner Ohnmacht und in deiner unfreiwilligen Passivität Gott auf einmal Raum gibst, zu dir zu sprechen, dich gerecht zu sprechen, dir deine Last abzunehmen. Du muss nicht mit dir hadern, lass dich fallen, vertrau dich Gott an. Lass Gott dein Knäuel entwirren, lass Gott die Wunden heilen, lass ihn zusammenführen, was sich noch zusammenführen lässt. Vertrau dein Kind seiner gütigen Hand an. Er wird es wohl richten.   

Mit starker Hand schaffe ich Recht unter den Völkern, das verspricht Gott – wenn wir ihn nur lassen, wenn wir ihm nur Raum geben. 

Das Versprechen für das kommende Jahr lautet: Es ist Hoffnung da. Es ist ein Gott da, der es gut mit uns meint. Es ist Zeit für Gottvertrauen, für Zuversicht. Es ist Zeit, Gott das eigene Leid anzuvertrauen und sich der Hoffnung hinzugeben und zu beten: Gott, richte du es. Amen. 

Dies könnte Sie auch interessieren

0
Feed