07/12/2024 0 Kommentare
Komm schon!
Komm schon!
# Predigt
Komm schon!
Liebe Gemeinde,
die Adventkerzen brennen wieder, die Tannen- oder Fichtennadeln an den Kränzen sondern ätherische Düfte ab. Man zieht sich am dunklen Nachmittag ins geheizte, erleuchtete Stübchen zurück. Man plauscht gepflegt, schlürft gemütlich eine Tasse Tee, nascht Plätzchen. Manche haben schon Weihnachtspyramiden aufgebaut, deren Propeller gemächlich drehende Schatten an die Decke werfen. Im Hintergrund dudelt leise das Weihnachtsoratorium oder Händels Messias. Weihnachten kann kommen.
Adventszeit ist Rückzugszeit, Privatzeit, Zeit für ungetrübte Harmonie – wenn nicht da draußen die Welt sich weiterdrehen würde. Wer tagsüber auf den online-Nachrichtenseiten surft oder abends nach alter Gewohnheit den Fernseher einschaltet und Nachrichten sieht, wird jäh aus der Gemütlichkeit herausgerissen.
Im Sudan beschießen Kriegsparteien die Flüchtlingslager, als gäbe es nicht schon genug Chaos in Palästina und in der Ukraine. Auch in Myanmar kämpfen Rebellen gegen die Militärjunta. Reis und Getreide werden nicht mehr angebaut oder können nicht mehr verschifft werden. Steigende Lebensmittelpreise treiben Menschen auf die Flucht, dorthin, wo es eine Chance auf Überleben gibt – in die Nachbarländer, von dort aus irgendwann auch ins reiche und überwiegend friedliche Europa.
Und dann die Wahl in den USA! Sie scheint den Rechtsextremisten Auftrieb zu geben. Was auf uns zukommt sind Handelskriege, nationale Abschottung, Fremdenhass, Spaltung der Gesellschaft, Unruhen, Unsicherheit. Wir sehen das alles wie eine Lawine auf uns zukommen und können uns ausrechnen, welchen Spannungen wir in Deutschland noch ausgesetzt sein werden.
Und ich denke immer und will es hinausschreien: Dieser ganze Zank und Streit, diese Gier und diese Kriege –das alles ist so unnötig. Die Temperaturen im Jahresmittel steigen weltweit, die Atmosphäre heizt sich auf, wir verbrennen unsere Lebensgrundlagen. Warum haben wir unsere Wirtschaft nicht längst auf Klima-Neutralität umgestellt? Warum tun alle auf einmal das Gegenteil von dem, was uns jetzt die Vernunft gebietet? Wir wissen alle, was zu tun ist. Aber kaum jemand hält sich daran. Es ist zum Verzweifeln!
Was tun? Fernseher ausschalten? Tee schlürfen, Adventsplätzchen genießen und die Augen verschließen vor der drohenden Katastrophe? Oder den Ärger und Unmut hinausschreien in die Welt – hoffen, dass da ein Gott ist, der sich unserer erbarmt, der dreinfährt mit starker Hand und dem tollen Treiben ein Ende bereitet.
„Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest hinab“,
schreit schon der Prophet Jesaja seinen Unmut heraus: „Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen, wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht, dass dein Name kundwürde unter deinen Feinden und die Völker vor dir zittern müssten, wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten, Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen!“
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Der gemütliche Advent könnte so schön sein. Aber ganz ehrlich: Die Lieder, die wir im Advent im wohligen Schein der Kerzen andächtig fromm singen, sind voller Ungeduld. Sie können es im Gesangbuch unter der Nr. 7 mitlesen, wir haben es ja vorhin auch gesungen:
„O Heiland, reiß die Himmel auf, herab, herab vom Himmel lauf. Reiß ab vom Himmel Tor und Tür. Reiß ab, wo Schloss und Riegel für.“
Geradezu gewalttätig soll Gott einschreiten und dem Chaos und der Unvernunft auf der Erde ein Ende bereiten. Gott soll die Türen zum Himmel nicht sanft öffnen, er soll sie nicht aufschließen, nein, er soll sie eintreten, einrennen und mitsamt Schloss und Riegel abreißen, er soll den Himmelsfeste, hinter der er sich versteckt hält, aufstoßen. Er soll endlich zu uns herabkommen und ein Machtwort sprechen:
Wir hören die erste Strophe dieses Adventsliedes in einer Vertonung von Johannes Brahms.
STROPHE 1
O Heiland, reiß die Himmel auf,
herab, herab vom Himmel lauf.
Reiß ab vom Himmel Tor und Tür.
Reiß ab, wo Schloss und Riegel für.
Haben Sie die Entschlossenheit in Johannes Brahms Vertonung gehört? „Mach endlich, Heiland, stoß auf, reiß ab, komm!“
Wie ist das, wenn man sich gar nicht ins warme, behagliche Adventsstübchen zurückziehen kann, weil die Stimme des verletzten Gewissens in einem so laut wird, dass man sie einfach hinausschreien muss?
Wir reisen in Gedanken zurück ins frühe 17. Jahrhundert. Der Jesuitenpater Friedrich Spee wird als Seelsorger über Jahre Zeuge von sogenannten Hexenprozesse. Er kommt viel herum, vor allem in den Zentren der Hexenverfolgung: in Köln, Trier, Würzburg, Mainz, Speyer und Paderborn.
Wie es scheint, hat er damals Frauen, die der Hexerei angeklagt waren, im Kerker besucht. Womöglich hat er auch Frauen auf dem Weg zum Scheiterhaufen begleitet – unschuldige Frauen, von böswilligen Nachbarn oder beleidigten Ehemännern verklagt, von Nebenbuhlerinnen oder abgewiesenen Liebhabern vor den Inquisitor gezerrt.
Friedrich Spee kannte ihre Geschichten, hatte sie angehört, wie sie ihr Leid klagen, hatte ihre Ohnmacht erlebt, nachdem ein Folterknecht unter unerträglichen Schmerzen ein falsches Geständnis von ihnen erzwungen hatte.
Das Unrecht, das diese Frauen traf, ließ Friedrich Spee nicht los. Er setzte sich für sie ein, macht Eingaben, wies Richter auf die Untauglichkeit von Foltergeständnissen hin. Aber seine Worte verhallten. Der Hexenwahn rollte weiter wie eine große Todesmaschinerie über alle hinweg.
O Heiland, reiß die Himmel auf, herab, herab vom Himmel lauf; reiß ab vom Himmel Tor und Tür, reiß ab, wo Schloss und Riegel für.
Das Gedicht stammt von Friedrich Spee. Er hatte es allerdings schon mit Mitte / Ende 20 verfasst, lange bevor er durch die deutschen Hauptstädte der Hexenverfolgung gereist war. Er hatte es 1622 in einem Büchlein mit dem Titel „Das allerschönste Kind in der Welt“ veröffentlicht. Das Büchlein sollte Schülern das Geheimnis der Menschwerdung Gottes erklären. „O Heiland reiß die Himmel auf“ ist das erste Gedicht in diesem Band.
Zeitgenossen schätzten das Gedicht, weil es starke Bilder enthält und einen starken Eindruck hinterlässt. Aber sie fragten sich: Wer könnte so beten: „O Heiland, reiß die Himmel auf“? Wer mag so ungeduldig auf den Heiland warten?
Sie dachten: „Der Heiland, also Christus, ist ja schon gekommen. Wir müssen ihn doch nicht mehr herbeisehnen!“
Und sie deuteten die Worte als eine Art Rollengedicht, in dem nicht wir selbst seufzen, sondern die Urväter Abraham, Isaak, Jakob, auch die Propheten Jesaja, Jeremia – all diejenigen, die noch auf den Heiland warten mussten, weil sie vor seinem Kommen lebten. Und so betitelt ein Druck aus dem späteren 17. Jahrhundert das Lied mit: „Seufzen der Altväter in der Vorhölle“.
Friedrich Spee konnte mit solch einer Realitätsflucht in die Religion nichts anfangen.
Für ihn war das kein Rollengedicht. Das war nicht das „Seufzen der Altväter in der Vorhölle“. Er fand sich nicht damit ab, dass der Erlöser schon gekommen sei und nun alles gut sei. Es war ja eben nicht alles gut!
Sondern für ihn bringt „O Heiland, reiß die Himmel auf“ seine eigene Sehnsucht zum Ausdruck.
Seinem Büchlein über „Das allerschönste Kind in der Welt“ hatte er die einleitenden Worte voranstellt:
„Wer Christus sei, lern, junger Christ. Zur Seligkeit es nötig ist. Wer Christus sei, hier fleißig such. Kurz, alles steht in diesem Buch."
Friedrich Spees Christussuche beginnt mit dem ungeduldigen Gedicht „O Heiland, reiß die Himmel auf“. Für ihn ist Ungeduld gegenüber der unerlösten Welt der Ausgangspunkt seines Glaubens.
Einen erlösenden Wolkenbruch wünscht sich die zweite Strophe herbei. Auch sie lehnt sich an Worte des Propheten Jesaja an. Jesaja ruft ungeduldig himmelwärts:
„Träufelt, ihr Himmel, von oben,
und ihr Wolken, regnet Gerechtigkeit!
Die Erde tue sich auf und bringe Heil,
und Gerechtigkeit wachse mit auf!
Friedrich Spee dichtet um:
O Gott, ein Tau vom Himmel gieß,
im Tau herab, o Heiland, fließ.
Ihr Wolken, brecht und regnet aus
den König über Jakobs Haus.
Wir hören die zweite Strophe in der Vertonung von Johannes Brahms: wie Gott erst einen Tau vom Himmel herabgießt, dann noch einen, und dann folgt der ganze Wolkenbruch. Und über allem erklingt die Melodie.
STROPHE 2
O Gott, ein Tau vom Himmel gieß,
im Tau herab, o Heiland, fließ.
Ihr Wolken, brecht und regnet aus
den König über Jakobs Haus.
Zwei Jahrhunderte nach Friedrich Spee hat Johannes Brahms dieses Lied vertont. Jeder Strophe verlieh er einen anderen Charakter. Die erste klingt mächtig und kraftvoll, drängend. In der zweiten hört man, wie sich einzelne Strömen zu einem Wolkenbruch vereinen.
In der dritten Strophe geht es darum, wie die trockene Erde nach dem Wolkenbruch ausschlägt und überall Grün aus dem Boden bricht. Die Erde soll das Blümlein hervorbringen, wie es im Weihnachtslied heißt: „Es ist ein Ros entsprungen aus einer Wurzel zart.“ Gemeint ist das Blümlein, das wir den Heiland nennen.
Hier sieht man, wie das Lied aus unterschiedlichen Bildern der alttestamentlichen Propheten zusammengesetzt ist. Sollte der Heiland in der ersten Strophe noch den Himmel aufreißen, so soll er nun wie eine Blume aus der Erde hervorbrechen.
„O Erd, schlag aus, schlag aus o Erd“, heißt es in der dritten Strophe.
„O Erd, schlag aus, schlag aus, o Erd,
dass Berg und Tal grün alles werd.
O Erd, herfür dies Blümlein bring,
o Heiland, aus der Erden spring.“
Die sprunghaft-kräftigen Begleitstimmen zur Melodie lassen spüren, wie die Erde heftig ausschlägt. Dann, in den sanften melodiösen Linien, hört man überall das Grün aus der Erde hervorbrechen.
STROPHE 3
„O Erd, schlag aus, schlag aus, o Erd,
dass Berg und Tal grün alles werd.
O Erd, herfür dies Blümlein bring,
o Heiland, aus der Erden spring.“
Dann überspringt Johannes Brahms zwei Strophen und kommt gleich auf das Elend dieser Welt zu sprechen: "Wir leiden hier größte Not, vor Augen steht der ewig Tod".
Für den Jesuitenpater Friedrich Spee war der ewige Tod, der ihm vor Augen stand, die Verdammnis der Hölle, die Strafe für das eigene verderbliche Handeln. Seine Bitte an Gott lautete: „Erlöse uns von der ewigen Verdammnis – erlöse uns von dieser elendigen Perspektive, auf ewig verdammt zu sein. Sei unseren Seelen gnädig, richte sie nicht zu streng und schenke uns, Gott, dass wir in Dein Reich der Seligkeit einziehen dürfen.“
"Ach komm, führ uns mit starker Hand
vom Elend zu dem Vaterland."
In der Bitte steckt Demut – eine Demut, die uns, den Herrenmenschen des 21. Jahrhunderts abhandengekommen ist. Wir wollen gar nicht demütig sein. Wir suchen nach Bestätigung, nach Selbstvergewisserung. Wir wollen erhobenen Hauptes durch die Welt gehen. Kein Gott darf uns anklagen.
Dabei wäre ein bisschen schlechtes Gewissen gar nicht so schlecht. Wir machen so ziemlich alles falsch, was wir auch nur falsch machen können. Wir leben – was unseren Planeten anbelangt – deutlich über unsere Verhältnisse. Wir teilen unseren Wohlstand nicht gerecht mit Menschen aus ärmeren Weltteilen. Wir schotten unser Land und unsere Wirtschaft ab und lassen nicht zu, dass Menschen in ärmeren Weltteilen fair mit uns konkurrieren können. So ungerecht wie heute war das Vermögen der Welt zu Spees Zeiten nicht verteilt.
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Wenn dagegen Johannes Brahms die Zeilen vertont – „Hie leiden wir die größte Not, vor Augen steht der ewig Tod“, dann hat er etwas anderes im Sinn. Die Sorge des materialistischen 19. Jahrhunderts ist nicht die Angst vor einem strengen Strafgericht, ist nicht die Angst vor einem Jüngsten Gericht und einem allzu strengen göttlichen Richter.
Eher noch steht einem Menschen des 19. Jahrhunderts die Sorge vor Augen, dass ja vielleicht nichts dran ist an der Jenseitshoffnung der Religion. Dass der Mensch mit dem Tod ins ewige Nichts fällt, ins ewige Vergessen. Dass unser Leben im unendlichen Universum absolut bedeutungslos ist und das Seelenleben eines jeden von uns vielleicht doch nicht viel mehr als ein bisschen Nervenfunkeln. Und dass wir auf einem winzigen Planeten im Nichts um einen heißen, lebensfeindlichen Glutball kreisen. Und dass da draußen in der eisigen Kälte des Alls weit und breit niemand ist, der sich auch nur einen bisschen um uns scheren würde. Ob die Erde nun weiterexistiert, oder ob wir sie nun ruinieren – wen juckt es schon in den Weiten des Alls?
„Komm, führ uns mit starker Hand, vom Elend zu dem Vaterland“ wäre dann eine ganz andere Bitte: Erlöse uns aus dieser Sinnlosigkeit; öffne uns einen Weg zurück in die Religiosität der Kindheit, in den naiven Gottesglauben. Führ uns in ein Vaterland, in dem die alte Sicherheit noch gilt: Dass wir irgendwie geborgen in dieser Welt sein können. Dass wir diesen Nihilismus ablegen, dass wir wieder Sorgende werden, gewissenhafte Menschen, bemüht umeinander, dass wir demütiger werden und furchtsamer – furchtsam, dass uns doch vielleicht ein Gott für unser gedankenloses Tun zur Verantwortung ziehen könnte.
Wir hören, wie Johannes Brahms unser Elend vertont. Die Aufwärtsbewegung der Melodie wird von Abwärtsbewegungen überlagert, die in schmerzvollen Dissonanzen münden. Nur einmal wird der Klang wieder kräftig und stark: beim Wunsch, man möge doch mit starker Hand geführt werden.
STROPHE 4
Hie leiden wir die größte Not,
vor Augen steht der ewig Tod.
Ach komm, führ uns mit starker Hand
vom Elend zu dem Vaterland.
Johannes Brahms trat nie als besonders frommer Mensch hervor. Nie hat er etwas im Auftrag der Kirche komponiert. Gleich zweimal hat er die Anfrage abgelehnt, ob er helfen könne, das kirchliche Liedgut zu modernisieren. Brahms war ein freier Künstler, der sich nicht für religiöse Zwecke einspannen ließ.
Manche sagen, Brahms sei im Grunde ein ungläubiger Mensch gewesen. Tatsächlich findet sich in keinem seiner Werke ein expliziter Hinweis auf Christus. Aus seiner Bibliothek sind viele religionskritische Bücher erhalten, in denen er am Rand Anmerkungen notiert hat – Notizen, die beweisen, dass er diese Autoren gelesen und ihnen wenigstens teilweise zugestimmt hat.
Aber gleichzeitig war er als liberaler Protestant aufgewachsen, war getauft und konfirmiert und hatte in der lutherischen Kirche Hamburgs Religionsunterricht genossen. Er war mit der Bibel von Kindesbeinen an vertraut. Als Erwachsener hat viele biblische Texte vertont, stets aus eigenem Antrieb, nie als Auftragswerke.
Und zu seinem Nachlass gehört auch theologische Literatur: Luthers Tischreden, eine biblisches Reallexikon, ein exegetisch-homiletisches Lexikon (also ein Buch über die Vorbereitung der Predigt). Auch hier finden sich jede Menge handschriftliche Notizen.
Brahms war wohl ein rationaler Protestant, kein religiöser Schwärmer, aber einer, der fest in seiner evangelischen Tradition verankert war.
Wenn er geistliche Werke komponierte, dann stellte er vorzugsweise Fragen. „Warum ist das Licht gegeben den Mühseligen?“, fragt er in einer Motette – mit anderen Worten: Warum erblicken wir vom Elend geplagten Menschen überhaupt das Licht der Welt?
Und wenn er Motetten komponierte, dann begann er meist mit dem Thema „Not und Verzweiflung“. In den nächsten Sätzen wendet sich der verzweifelte Mensch an Gott. Und schließlich erfährt er irgendwie Trost. Das Schema zieht sich so konsistent durch Brahms Werke, dass man darin wohl so etwas wie die Blaupause seiner Frömmigkeit erkennen kann.
In Friedrich Spees Gedicht mündet die Bitte um Erlösung in das Versprechen, die betende Seele werde im Jenseits – wenn sie dort denn aufgenommen wird – einen Lobpreis singen. Die letzte Strophe ist also ein bedingtes Versprechen: Nimm uns, dann loben wir dich auch.
Bei Johannes Brahms kommt der Umschwung anders daher. Die letzte Strophe ist als der Trost gedacht, der auf die Bitte des elenden Menschen folgt. Der Umschwung vom Elend zum Lobpreis kommt so plötzlich, dass die letzte Strophe wie ein gottesdienstlicher Hymnus klingt, ein liturgischer Lobpreis zum Schluss. Brahms kann uns einfach nicht in der Ungewissheit lassen, dass wir ja im Grunde verlorene Seelen sind. Brahms weiß: Für so einen Schluss sind wir einfach zu trost- und liebesbedürftig. Wir brauchen etwas Aufbauendes, wir brauchen Bestätigung. Brahms schenkt sie uns, vielleicht, weil er auch selbst kein negatives Ende für sein Chorwerk will. Und so endet auch dieses geistliche Lied positiv – und wir können uns unser Leben getrost wieder in unserem Adventsstübchen gemütlich einrichten.
STROPHE 5
Da wollen wir all danken dir,
unserm Erlöser, für und für;
da wollen wir all loben dich
zu aller Zeit und ewiglich.
Lassen wir dennoch die drängende Ungeduld zu, die den Jesuitenpater Friedrich Spee einst umgetrieben hat? Lassen wir das Unrecht der Welt auf uns einwirken – lassen wir die Empörung zu, die dieses Unrecht bei uns auslösen sollte – und können wir die Empörung dann auch ummünzen in Engagement?
Ich bin mir sicher, dass es genau das ist, was Friedrich Spee mit diesem Lied am Anfang seines Büchleins über „Das allerschönste Kind in der Welt“ aussagen wollte: Wenn du dich auf die Suche nach Christus machst, dann starte mit Empörung.
„Empört euch“, so betitelte der ehemalige französische Widerstandskämpfer und UN-Diplomat Stéphane Hessel 2010 seine Thesen, in denen er die Diskriminierung von Ausländern anprangerte, den Sozialabbau in den reichen Ländern der Welt, die Konzentrationsprozesse in den Medien und ihre gefährdete Unabhängigkeit, den zunehmend beschränkten Zugang zu Bildung, die Umweltpolitik und die für uns Menschen gefährliche Erhitzung des Weltklimas.
Es gibt so vieles, über das wir uns empören könnten. Vielleicht müssen wir das Gedicht von Friedrich Spee noch einmal ganz anders hören. Und vielleicht liegt auch für uns in der Empörung ein neuer Zugang zu dem Christus, den wir herbeisehnen, dass er die Himmelstür aufreißt, dass er herabträufelt, wie ein Tau, dass er aus die Erde aufbricht und wie ein Blümlein aus ihr herauswächst, vor allem aber, dass er sich unseres wirklichen Elendes annimmt und uns eine Perspektive bietet.
Wenn das so ist, dann, Gott, wollen wir dich preisen. Dann, aber nur dann, Gott, wollen wir alle dir danken, unserm Erlöser, für und für; dann wollen wir alle dich loben, zu aller Zeit und ewiglich. Amen.
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