Wenn die Friedenskirche weg wäre ...

Wenn die Friedenskirche weg wäre ...

Wenn die Friedenskirche weg wäre ...

# Predigt

Wenn die Friedenskirche weg wäre ...

Liebe Gemeinde, 

gestern war ich auf einer Veranstaltung des Dekanats, wo viele Haupt- und Ehrenamtliche aus Diakonie und Kirche zusammenkamen. Und da stellte jemand die Frage: Stellen Sie sich einmal vor, ihre Kirche wäre morgen nicht mehr da. Einfach weg. Was würde dann fehlen? 

Ich konnte nicht genau sagen, ob jemand unsere Friedenskirche vermissen würde, ob sie jemandem fehlen würde. 

Ich dachte nur an verschiedene Begebenheiten aus den letzten beiden Jahren, denn so lange bin ich ja noch gar nicht da. Ich dachte an Sterbende, die ich ausgesegnet habe. Einer von ihnen hatte wochenlang nicht sterben können. Ich gab ihm frühmorgens um halb vier den Sterbesegen. Ich nahm keine Reaktion wahr und wusste gar nicht, ob er ihn überhaupt mitbekommen hatte. Gegen halb fünf schlief er friedlich ein – nur wenige Stunden, bevor das Palliativteam anrückte, das ihm mit einer Morphiumspritze das Loslassen erleichtern sollte. 
Ich dachte an Trauergespräche, die ich geführt habe; Gespräche, in denen wir jedes Mal ein ganzes Leben überdacht haben, und das, was bleibt. 
Ich dachte an die beiden Totensonntagsgottesdienste 2022 und 2023, bei denen wir für alle Verstorbenen des vergangenen Jahres Kerzen angezündet haben und dann mit den Angehörigen drumherum standen und das Abendmahl feierten. 
Ich dachte an die Künstler, die oben im Turm ausstellen und dann manchmal erst zum Gottesdienst kommen, um danach durch ihre Ausstellung zu führen. Letzten Sonntag saß der Illustrator Martin Stark wieder einmal da – in einer der hinteren Reihen. 
Ich dachte an neu Zugezogene. Einige kamen mit Mitte 70, um bei ihren Enkeln zu wohnen in die fremde Stadt Offenbach. Sie kamen und schlossen in der Kirchengemeinde ganz neue Freundschaften, Freundschaften, die auch wirklich vertrauensvoll sind und tragen, auch bei schwierigen Dinge im Leben.
Ich dachte an die treue Telefongottesdienstgemeinde, die jeden Sonntag am Telefon auf den Gottesdienst aus der Friedenskirche wartet. Heute waren wieder über 20 zugeschaltet.
Ich dachte an die Jubelkonfirmanden, die hier vor ein paar Wochen noch in den ersten Bänken saßen und dann mit den wenige Wochen zuvor frisch Konfirmierten zusammen hier um den Altar standen und Abendmahl feierten. Einige erinnern sich vielleicht: Am letzten Sonntag der Sommerferien hatte sich eine ganze Riege von gerade Konfirmierten verabredet, hier in den Gottesdienst zu kommen. Und sie stolperten in diese Goldene Konfirmation, alle waren ganz überrascht. Es war ein schöner Anblick.  Ich dachte an Jugendliche, mit denen wir uns ein Jahr lang mit der Schoah beschäftigt haben, dem Holocaust, und die – vor allem nach der Polenreise Anfang der Sommerferien –in ihrer Entwicklung einen riesigen Sprung nach vorne gemacht haben. 
Ich dachte an einige junge, zugezogene Eltern, die jetzt über die Gemeinde hier Anschluss finden. Einige von ihnen sind dieses Jahre Ende September mit uns auf Familienfreizeit. 
Ich dachte an Paare, deren Großeltern schon in der Friedenskirche getauft wurden, und die nun ihre eigenen Enkelkinder hier taufen und konfirmieren lassen. 
Ich dachte an die Krabbelkinder, die sich bei uns im Garten treffen.
Ich dachte an die obdachlose studierte Frau, die immer wieder kommt, völlig unregelmäßig und unvorhersehbar, um sich in irgendeiner Not helfen zu lassen. 
Ich dachte an Leute aus ganz Offenbach, die sich über ein kleines Zugeld freuen, und dann als Gegenleistung gerne unseren Gemeindebrief verteilen, an Mütter, denen am Monatsende regelmäßig das Geld ausgeht und die sich dann Essensgutscheine holen.  Und mir fiel noch so unendlich viel ein, das fehlen würde, wenn es die Gemeinde nicht mehr gäbe. 

Klar kann man sich das auch alles wegdenken, und irgendwie ginge auch ohne das alles unser Leben hier weiter. Nur würden wir uns dann nicht mehr alle im Gottesdienst über den Weg laufen, oder bei unseren Festen, oder am Heiligabend, oder in der Osternacht, und es würde doch etwas fehlen, etwas, das diesem Viertel eine Seele gibt. 

Und es sind ja nicht nur ein paar Leute, die hier ein und ausgehen, die man in der Kirchenverwaltung die „Kerngemeinde“ schilt, weil sie angeblich so wenige sind, und die ganze Aufmerksamkeit der Hauptamtlichen schlucken. Man muss den Trubel bei unserem Gemeindefest mit Jazzanova einfach mal erlebt haben. Und es wird wieder ein Kommen und Gehen sein, wenn wir demnächst am 21. September unseren Kinderflohmarkt haben, wenn der Weihnachtszauber wieder öffnet, wenn die Krippenspielproben beginnen, und so weiter

Mir fiel so vieles ein. Na klar kann das auch alles weg, dachte ich. Irgendwer anders wird schon noch für das eine oder andere einspringen. Aber jetzt tut das die Kirchengemeinde. Und sie hat für uns hier im Viertel und weit über das Viertel hinaus eine große Bedeutung, mehr als sich an den Mitgliedszahlen ablesen lässt. 

Das ging mir gestern durch den Kopf bei diesem sonderbaren Gedankenspiel. Manchmal ist es gut und wichtig, solche Gedankenspiele anzustellen, sich aus dem Trott bringen zu lassen, Abstand zu gewinnen vom Selbstverständlichen, das Vertraute mit fremdem, frischem Blick zu betrachten. 

Der Predigttext für den heutigen Sonntag tut auch so etwas. Er irritiert, er verwirft das Gewohnte, überrascht. Nur dass wir ihn schon so oft gelesen haben, dass uns die Überrumpelung derer, die Jesu Worte zum ersten Mal gehört haben, abhandengekommen ist. Wir können diesen Text passagenweise fast schon mitsprechen. Er ist in unsere kulturelle DNA eingegangen. Lene Klein hat ihn uns eben als Evangelium vorgelesen. 

Sorgt nicht, was ihr essen sollt! Seht die Vögel unter dem Himmel, sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen, und doch ernährt sie ihr himmlischer Vater. 

Sorgt nicht um eure Kleidung! Seht die Blumen auf dem Felde, sie spinnen und nähen nicht, und doch sind sie schöner gekleidet als es einst König Salomo gewesen war in all seiner Pracht. 

Fragt nicht: Was sollen wir essen? Was sollen wir trinken? Was sollen wir anziehen? Euer Vater im Himmel weiß doch, dass ihr das alles braucht.

Der Jesus, der so redet, das ist einer, der durch die Lande zieht, immer heimatlos. Er ist wie der Menschensohn, der nicht weiß, wo er sein Haupt hinlegen soll. 

Der Jesus, der so redet, erinnert mich an Diogenes, das war der Philosoph, der in der Tonne saß, als der größte Feldherr aller Zeiten, Alexander der Große plötzlich vor ihm stand. Alexander, der gerade ein Reich vom einen Ende der Erde zum anderen erobert hatte. Und dieser mächtigste Mann der Welt steht nun vor Diogenes‘ Tonne und fragt ihn: „Ich habe gehört, dass du der weiseste Mensch weit und breit bist. Sag mir, was du von mir wünscht, und ich lege dir alles zu Füßen. Worauf Diogenes antwortet: „Geh mir aus der Sonne.“

Aus Jesu Worten schleudert mir eine ähnliche Respektlosigkeit gegenüber meinem bürgerlichen Lebens entgegen. Nicht so provokant, nicht so verächtlich, wie von Diogenes. Eher naiv, zuversichtlich, fast schon kindlich.

Was sorgt ihr euch darum, was ihr essen wollt?, fragt Jesus. Dabei ist die Antwort doch ganz einfach: Damit wir über den Winter kommen. Es reicht eben nicht, dass alle in der Sonne sitzen und schnorren. Irgendjemand muss doch auch vorsorgen. 

Und es stimmt ja auch nicht, dass die Vögel sich gar nicht sorgen. Man muss nur einmal beobachten, wie sie im Frühjahr laut piepsend ihr Revier verteidigen. Wie sie im Frühsommer hin und her fliegen, um ihre Jungen in den Nestern zu versorgen. Wie sie alles unternehmen, um Feinde vom Nest wegzulocken. Die Vögel sind voller Sorge, sonst könnten sie nicht eine Saison überleben. 

Was sorgt ihr euch um eure Kleidung?, fragt Jesus. Dabei ist die Antwort wieder ganz einfach: Mal, um uns vor der Sonne zu schützen, mal, um uns vor der Kälte zu schützen. Unser Fell ist nicht dicht genug, als dass wir ganz ohne Kleidung auskämen. Und dann möchte man auch gerne den anderen einen appetitlichen Eindruck vermitteln. Nicht jede und jeder möchte immer alles zu sehen bekommen. 

Und dass die Blumen auf dem Felde sich nicht sorgen, mag stimmen. Aber sie überleben oft nicht einmal den nächsten Winter. Die Blütenpracht ist von kurzer Dauer, und sie dient eben auch dazu, den Bienen einen appetitlichen Eindruck zu vermitteln. So einfach ist das nicht mit der Sorglosigkeit. 

Und doch berühren mich Jesu Worte, weil sie mich nötigen, das Selbstverständliche meines Lebens einmal mit fremdem Blick zu betrachten. Weil sie mich nötigen, einmal kurz Abstand zu nehmen vom Alltäglichen. Weil sie mich auf Dinge aufmerksam machen, die auch zu meinen Erklärungen nicht mehr passen wollen. Denn ich verzehre mich ja oft in Sorge, liege nachts da, bange um meine Zukunft, oder die der Kinder, der kleinen, weil sie im Kindergarten Stress machen, weil sie in der Schule nicht mitkommen, weil sie sich so schwer tun mit Freundschaften.
Ich sorge mich um meinen Beruf, weil es wieder einen Streit mit einem Vorgesetzen gab, weil die Abteilung nicht rundläuft, weil die Geschäftszahlen einbrechen.
Ich sorge mich um meinen Ehepartner, der krank geworden ist, um mich, weil ich nicht weiß, wohin nach dem Tod meines Partners.
Ich liege da und verzehre mich vor Sorgen, weil ich einfach den Mut fahren lasse. Weil ich kleingläubig und ängstlich geworden bin. 

"Was sorgst du dich?", fragt Jesus, und auf einmal klingen die Worte liebevoll: "Sieh die Vögel am Himmel, sieh die Lilien auf dem Felde, sorge dich nicht. Dein himmlischer Vater wird für dich sorgen."   

Manchmal brauche ich jemanden, der mir das sagt. Eine Kirche, die mich daran erinnert. Einen Gottesdienst, in dem ich aus dem Alltag heraustrete. Eine Pause, etwas Schönheit um mich, Menschen, die so denken wie ich. Liebevolle Worte, aufmunternde Worte. 

"Macht dir keine Sorgen um den kommenden Tag – der wird schon für sich selber sorgen. Es reicht, dass jeder Tag seine eigenen Schwierigkeiten, seine eigenen Sorgen hat."

Strebt vielmehr nach dem Reich Gottes, sagt Jesus. Und das Wort „streben“ aus der Basisbibel, aus der uns Lene das Evangelium vorhin vorgelesen hat, gefällt mir nicht – auch wenn mir die Basisbibel sonst sehr gut gefällt. „Streben“, das klingt so eifrig, so bemüht, so gestresst. „Trachtet vielmehr nach dem Reich Gottes“, heißt es in der Luther-Übersetzung. Ein altertümliches Wort, aber es kommt der Sache schon näher. 

ζητεῖτε heißt es im Griechischen, sucht nach dem Reich Gottes, verlangt nach ihm, begehrt es, so sagt es Jesus in der Originalversion des Neuen Testaments, an die ich mich gerne halten möchte. Das Reich Gottes ist schon da, du musst nicht nach ihm streben, du musst es nicht bauen, du bist nicht schon wieder in die Pflicht gerufen, dich um das Wohl der Welt zu sorgen, das Elend zu schultern und aus dem Weg zu räumen. Nein, sorge nicht, die Anzeichen des Gottesreiches sind schon überall zu sehen. Du musst sie nur erkennen. 

Das Reich Gottes ist da, wo Menschen heil werden. Wo Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige rein werden, Taube hören, Tote auferweckt werden, und wor Armen das Evangelium verkündigt wird. 

Heil werden, das muss nicht heißen: Gesund werden. Das kann auch heißen, dass du dich mit dem unvermeidlich schweren Weg aussöhnst. Dass du sagst: "Es ist gut so." 

Aber es heißt doch auch, dass wir alle Sehende und Hörende werden, dass wir aus unserer Starre erwachen, aus unserer Isolation heraustreten, und dass wir gleichermaßen Respekt erwarten dürfen, egal, ob wir nun reich oder arm sind. 

Und vor allem braucht unser Heil werden, dass wir einen Ort haben, wo wir das erleben, und wo uns das jemand sagt, und wo wir das gemeinsam um den Altar herum zelebrieren dürfen. 

Amen.

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